Tausch - Täuschung - Enttäuschung
(an attraction from the theme park AVANT-GARDE)
2004





 

» video: urinal

In öffentlichen Toiletteanlagen entdeckt man gelegentlich Urinale, die mit einer „Zielfliege“ ausgestattet sind. Es handelt sich um das Abbild einer Fliege, das in die Keramik des Urinals eingebrannt ist. Der Benutzer soll verführt werden, seinen Harnstrahl auf das täuschende Abbild zu richten. Dies erhöht die Sauberkeit der Toiletten und Reinigungskosten können dadurch eingespart werden.

Auch jenseits der ökonomischen und hygienischen Optimierungsstrategien ist die „Zielfliege“ ein bemerkenswertes Wesen. Für den Designer stellt es ein gelungenes Beispiel für User-Interface-Design dar. In der Kunst sind Fliege und Urinal die symbolischen Eckpunkte einer Kunstgeschichtsschreibung als Entwicklungsgeschichte.

Das Urinal, das als ready made seinen Weg in das Museum und in die Kunstgeschichte fand, wurde zum Sinnbild des Paradigmenwechsels in der Kunst des 20. Jhs. Neben den vielfach analysierten Strategien Duchamps definiert das ready made das Verhältnis von Darstellung und Dargestelltem neu. Die Frage nach der Hierarchie von Vorbild und Abbild bzw. nach den mimetischen Funktionen der Kunst findet hier ihre Aufhebung. Mimesis als scheinbare Identität von Vorlage und Kunstwerk scheint im Duchamp-Urinal ihre absurde Erfüllung zu finden.

 

Die Legende vom Malerwettstreit zwischen Zeuxis und Parrhasios erzählt von einer Täuschung, die durch die scheinbare Identität von Vorbild und Abbild evoziert wird. Die beiden Maler wurden aufgefordert, jeweils ein Bild zu malen. Am Tag der Enthüllung ist es Zeuxis, der die von ihm gemalten Trauben als erster enthüllt. Sie sind so realistisch, dass die Vögel versuchen diese zu essen. Ungeduldig wünscht Zeuxis das Werk von Parrhasios zu sehen und versucht den Vorhang wegzuziehen. Doch dieser ist das gemalte Abbild eines Vorhangs, durch das Zeuxis getäuscht wurde. Parrhasios gewinnt den Wettbewerb mit folgender Begründung: Während Zeuxis die Tiere täuschen konnte, vermochte Parrhasios die Menschen – ja, sogar einen Künstler – zu täuschen.

Diese Anekdote erfährt in der Renaissance eine neue Interpretation, wobei hier das Abbild einer Fliege den Betrachter täuschen soll. Giotto ist der Urheber dieser illusionistischen Fliege von der Vasari berichtet: „Man sagt auch, Giottto habe zur Zeit, in welcher er noch als Knabe bei Cimabue war, einer Figur seines Meisters eine Fliege so natürlich auf die Nase gemalt, daß Cimabue, als er sich bei seiner Rückkehr an die Arbeit setzte, sie als eine wirkliche Fliege mehrmals mit der Hand fortscheuchen wollte, ehe er des Irrtums inne ward.“ Dieser Passage wird hinzugefügt, dass es Giotto „war, der die wahre Art zu malen wieder gefunden hatte.“ Die Fliege Giottos, die auf der Bildoberfläche zu sitzen scheint, beschreibt nicht nur die Grenze zwischen Bild- und Betrachterraum neu, sondern definiert die Grenze zwischen Gotik und Renaissance. Die Fliege wird zum Zeichen einer neuen Malweise, die versucht, die Natur nachzuahmen. Aus der Sicht der Kunstgeschichtsschreibung schreibt die Fliege die Differenz zwischen dem traditionellen Maler Cimabue und dem progressiven Maler Giotto fest. Die Fliege wird somit zum Symbol des künstlerischen Fortschritts.

Diese Periode wiederum findet ihre Erfüllung in der musealen Präsentation des Urinals. Das Urinal mit „Zielfliege“ führt uns die Kunst der Neuzeit als Kreisgang vor. Die teleologische Kunstauffassung der Neuzeit wird zur historischen Periode, die ihren anekdotischen Anfang in der Fliege Giottos und ihren symbolischen Endpunkt in dem „Fountian“ von Duchamp hat. Die Gleichzeitigkeit von Anfang und Ende der neuzeitlichen Kunstgeschichte erreicht ihre höchste symbolische Verdichtung im Urinal mit „Zielfliege“. Diese Symbolisierungsleistung findet außerhalb des institutionellen Kontexts der Kunst statt. In den Pissoirs der Flughäfen, Gastronomiebetriebe und anderer öffentlicher Bedürfnisanstalten, die mit visuellen Leitsystemen ausgestattet sind, offenbart sich kunstgeschichtliches Fortschrittsdenken nicht mehr als lineares Zeitmodell, sondern als zeitliche Schleife.

Als Benutzer dieser Orte (d.h. als Rezipient) findet man sich einerseits in der Position des Getäuschten wieder: man versucht verzweifelt mit dem Harnstrahl die Fliege zu verscheuchen. Von der Beharrlichkeit des Abbildes enttäuscht, fällt man beim Urinieren noch einmal in die Rolle des vormodernen Künstlers zurück. Andererseits kann man auf das ultimative Symbol der telelogischen Kunstideologie pissen und sich so von jener Epoche abgrenzen.
(Theo Ligthart)






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